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Toms Augen weiteten sich verständnisvoll. »In diesem Stadium?« Er schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«
»Aber einen Versuch wäre es wert, oder? Was haben wir schon zu verlieren?« Dagegen konnte er wohl nichts einwenden.
»Vergiss nicht, seine Aversion …«
»Nein! Denk doch mal nach! Mein Blut könnte ihn retten. Warum bin ich da bloß nicht früher draufgekommen. Außerdem glaube ich, dass es sowieso schon passiert ist. Einmal, vor längerer Zeit, hat er mir nachts einen überdimensionalen Knutschfleck verpasst, dachte ich zumindest damals, aber wenn ich genauer darüber nachdenke …«
»Dixie, wenn er tatsächlich gesaugt hätte, würdest du nicht bloß ›glauben‹, er hätte es getan. Damals hat er in der Hitze der Leidenschaft von deinem Blut probiert und mich achtundvierzig Stunden lang an seinen Schuldgefühlen teilhaben lassen.«
»Er hat dir also alles brühwarm erzählt!« Ihre Augen funkelten erbost.
»Gelitten hat er wie ein Hund, weil er geglaubt hat, er hätte dich missbraucht.«
Deshalb also hatte er sich in diesen Tagen nicht bei ihr blicken lassen, und als er wiederauftauchte, hatte sie ihn verdächtigt, ihr Notizbuch geklaut zu haben. »Missbraucht hab ich mich nun gar nicht gefühlt, eher verlassen, und ich bin nicht bereit, noch länger herumzustreiten. Wenn er Blut braucht, nun, mein Körper ist voll davon.«
»Dixie, weißt du, was du da vorhast?«
»Ich bin seit dem College Blutspenderin.« – »Das ist nicht dasselbe.«
Damit hatte er recht. Ihr schoss ein Gedanke durch den Kopf. »Wenn er an mir saugt, werde ich dann auch zum Vampir?«
Tom schüttelte den Kopf. »Nein. Du spürst den Blutverlust. Mehr nicht. Wenn das Blutsaugen eine Verwandlung zur Folge hätte, wären wir Vampire längst in der Überzahl.«
»Dann kann ich ihm mein Blut ja bedenkenlos geben.«
»Wenn da nicht seine Skrupel wären. Vergiss es, Dixie.«
»Aber machbar ist es. Du zapfst schließlich auch Sterbliche an. Wie machst du das? Durch einen Biss in den Hals?« Sie tat so, als würde sie das Grauen, das sich in ihr wie ein Infekt ausbreitete, locker wegstecken. Sein Blick schien zu fragen, ob sie noch ganz bei Trost war. Gewisse Zweifel daran hatte sie auch. »Ich mach keine Scherze, Tom. Bitte sag mir, was ich tun soll.«
»Wenn es hilft, wird Kit mich verfluchen.«
»Dann geh raus. Ich werde ihm sagen, du hättest mal müssen.«
Sein Mund verzog sich zu einem zögernden Lächeln. »Ich bin ein Wiedergänger, Dixie. Ich brauche keine Toilette.«
»Woher soll ich denn das wissen? Verdammt! Hilf mir. Sieh ihn dir doch an.«
Christophers Gesicht, nun grauer als Staub, war faltig und runzlig wie das eines alten Mannes. Er war uralt. Jahrhundertealt. Dixie unterdrückte ihr Entsetzen, als sie es in Toms Augen widergespiegelt sah.
»Na, dann«, sagte Tom. »Es ist ganz einfach. Er braucht eine Vene oder eine Arterie. Der Hals bietet sich an, aber auch Handgelenk oder Oberschenkel, egal.«
»Aber er kann sich nicht bewegen. Wie soll er da zubeißen? Übernimm du das für ihn!« Sie zog den Ausschnitt ihres T-Shirts runter.
»Nein!« Er wich zurück und hob die Hände, wie um sie abzuwehren. »Wir saugen nie am Biss eines anderen. Das ist tabu.«
Dies war nicht der Zeitpunkt, den Ehrenkodex von Wiedergängern zu diskutieren. »Aber wie denn dann? Die Zeit drängt.« Sie kam selber fast um vor Angst.
»Moment! Es gibt eine Möglichkeit.« Er verschwand blitzartig, tauchte aber ebenso schnell wieder auf. »Da.« Er drückte ihr ein Skalpell in die Hand. »Es ist steril.«
Dixie starrte zu ihm hinauf. »Wo …?«, begann sie.
»Ein alter Freund von mir ist Arzt. Er lässt hier ab und zu was liegen, wenn er mich in der Stadt besucht.« Sie sollte ihn noch etwas anderes fragen, konnte aber keinen Satz mehr formulieren, dafür spiegelte sie sich in dem auf Hochglanz polierten Stück Metall. Es sah lebensbedrohlich aus. »Öffne eine Vene. Sobald er das Blut riecht, erwacht sein Sauginstinkt. Normalerweise können wir diesem Instinkt durch Willenskraft widerstehen, aber in seinem Zustand funktioniert er reflexartig.«
»Bist du dir da sicher?«
»Ich bin mir sicher, dass du tapfer genug bist, es zu tun.«
Unter Umständen büßte sie für diese Sicherheit ihr Leben ein, aber wenn sie noch weiter wartete, setzte sie Christophers Leben aufs Spiel. Die Klinge fühlte sich kälter an als Angst. Sie konnte sich nicht einfach blindlings die Kehle aufschneiden. »Ich brauche dringend einen Spiegel.«
»Nicht in diesem Haus, Dixie.«
Sie zögerte, ehe ihr Blick wieder auf Christopher fiel. Sein dunkles Haar war grau gesprenkelt, die Wangen von Falten zerfurcht. Es war höchste Zeit.
Sie zog die Decke zurück, um näher an ihn heranzukommen, und sah auf die dürren Ärmchen und die eingesunkene Brust hinunter. »Es ist zu spät.«
»Nein, noch nicht ganz. Ich würde es wissen.«
»Und wie?« Gran in ihrem Sarg hatte besser ausgesehen als Christopher in diesem Moment.
»Er hat mich gemacht, erschaffen sozusagen. Deshalb merke ich es, wenn er erlischt.«
»Musst du dann auch sterben?«
Er schüttelte den Kopf. »Das nicht, aber ich spüre es, wenn er geht.«
»Also dann, los.« Sie setzte das Skalpell an ihr Handgelenk, aber unter der Haut erschien gleich ein halbes Dutzend blauer Venen. Was, wenn sie die falsche erwischte? Das Handgelenk kam also nicht in Frage. Sie beugte sich weit zu Christopher hinunter, stützte sich auf der Matratze ab, sodass Christophers Kopf zur Seite rollte, mit der Wange nur ein paar Zentimeter von ihrer Brust entfernt. Das wäre einfacher, als sich das Handgelenk aufzuschlitzen. Aber … Sie schaute über die Schulter in Richtung Tom. »Du hast vielleicht keinen Bedarf für eine Toilette, aber würde es dir was ausmachen, mir eine Tasse Tee oder derlei zu machen? Mir wäre es lieber, wenn niemand zusieht.«
Er zögerte, nickte dann und ging. Dixie war nun alleine mit Christopher, in der Hand ein Skalpell, das zu gebrauchen sie nur noch den Mut finden musste.
Sie fasste Christopher am Hinterkopf und beugte sich nach unten, um möglichst nahe an seinen Mund heranzukommen. In der rechten Hand hielt sie das mittlerweile warme Skalpell. So ging es nicht. Sie hätte eine dritte Hand gebraucht, um sich ihres T-Shirts zu entledigen. Also ließ sie seinen Kopf so sanft wie möglich auf das Kissen zurückgleiten, legte das Skalpell auf den Nachttisch und zog sich das T-Shirt über den Kopf. Dann hob sie seinen Kopf wieder an. Das war aber schwerer als gedacht und nur mit beiden Händen zu bewerkstelligen. Was, wenn sie nun zu tief schnitt? Was, wenn sie zu sehr zögerte und er währenddessen erlosch?
Als sie ihn nahe zu sich heranzog, neigte er sich zu ihrer Brust. Hatte er sich etwa bewegt? Sie sah auf das ausgemergelte Gesicht hinunter, das an ihrer Brust lag. Das genügte. Sie öffnete ihren Büstenhalter und glitt unter die Decke, bis sie ausgestreckt neben ihm lag. Auf einen Ellenbogen gestützt, beugte sie sich über ihn, bis ihre Brust seine Lippen berührte. Mit zusammengebissenen Zähnen legte sie das Skalpell an die Haut, machte die Augen zu und schnitt. Sie zuckte vor Schmerz zusammen, aber als sie die Augen wieder öffnete, sah sie lediglich einen Kratzer. Damit Blut floss, musste sie tiefer schneiden. Sie zögerte ein letztes Mal. Was sie tat, war Wahnsinn. Ein Blick auf Christopher jedoch gab den Ausschlag.
Das Skalpell glitt über die Haut. Sie schrie auf vor Schmerz, registrierte aber freudestrahlend den hervorschießenden Blutstrom. Sie drückte Christopher zu sich heran, liebkoste seinen Mund mit ihrer Brust. Doch er lag reglos da wie eine Statue aus Granit. Sie hatte zu lange gezögert.
Plötzlich teilten sich seine Lippen, und es durchfuhr sie eine Welle der Freude, als seine Lippen sich auf ihre Brust legten. Sie vergaß die Schmerzen. Es gab keine Schmerzen mehr, nur Freude. Sie schmiegte sich noch enger an ihn, um die Nähe seines Körpers von Kopf bis Fuß zu spüren. Ihre Arme hielten ihn eng umfasst, als er ihre Kraft einsog, und ihr Geist schwebte, getragen auf einer Wolke aus Licht, immer höher und höher.
Sie seufzte und stöhnte, als sein fordernder Mund sich immer mehr an ihr festsog. Sie schrie auf, als sie die zurückkehrende Kraft in seinem Kiefer spürte, und als er den Arm um sie legte, mischten sich Schmerz und Freude. »Christopher!« Sämtliche Schrecken und Ängste des Tages verflüchtigten sich mit diesem Schrei, als sie spürte, wie er mit allen Fasern seines Körpers darauf reagierte. Ihre Hüften pressten sich an ihn. Sie hatte aufgehört zu atmen und nachzudenken. Sie wollte mit Christopher zusammen sein, heute und für immer und ewig.
Er stöhnte, und sie antwortete mit einem Seufzen. Er biss zu. Sie klammerte sich an ihn, drängte ihn, noch fordernder und ausdauernder zu trinken, sehnte sich nach der süßen Erfüllung, die er gab und selbst empfand. Seine Arme umklammerten sie wie eine Schraubzwinge, was aber nicht unangenehm war, spürte sie doch, wie in dieser Umklammerung ihr Wesen in seinem aufging. So viel Nähe und Hingabe hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie empfunden.
»Dixie.« Er hob den Mund beim Sprechen etwas an und sah zu ihr auf, sein Auge verschwommen vor Leidenschaft. »Was habe ich nur getan?«
»Du hast dir von mir genommen, was du brauchtest.« Sie lächelte, hätte gerne gekichert, aber ihr fehlte die Kraft dazu. »Und mir eine gänzlich neue Erfahrung beschert.« Sie fühlte sich schwummerig und beschwingt zugleich. Um sie herum schien sich alles in Luft aufzulösen.
»Das hättest du nicht tun sollen, Dixie.« Seine Verärgerung drang vage durch ihr verschleiertes Bewusstsein.
»Warum denn nicht? Es hat dich gerettet, oder nicht?«
»Zu welchem Preis, Dixie?«
Sie antwortete nicht; sein Gesicht, das Bett und das Zimmer versanken im Dunkel.
»Bist du von Sinnen? Wie konntest du ihr das erlauben?«, sagte Christopher von der Türschwelle aus.
Tom sah von den Unterlagen auf, die er gerade las, und lehnte sich zurück. »Ich nehme an, du sprichst von der Lady, die dich gestern Abend hierhergebracht und mit ihrem mutigen Einschreiten den Fortbestand deiner Existenz gesichert hat.« Er lächelte. »Ich gestehe, du siehst eindeutig besser aus als zu dem Zeitpunkt, an dem ich dich das letzte Mal gesehen habe. Ich fürchtete schon, unsere langjährige Freundschaft sei zu Ende.«
Christopher stützte sich mit gespreizten Händen auf die Eichenplatte und baute sich vor seinem Freund auf. »Vielleicht ist sie es! Du hättest das nie zulassen dürfen.«
Tom zog die Augenbrauen hoch. »Vielleicht wollte ich dich ja auch hierbehalten.«
Christophers Ellbogen knickten ein, und sein Kopf fiel nach unten. »Du hättest sie davon abhalten können.«
»Glaubst du das wirklich? Deine junge Freundin ist keine von der Sorte, die sich auch nur irgendetwas sagen lässt. Ich habe ja versucht, sie zur Umkehr zu bewegen, aber sie marschierte einfach schnurstracks an mir vorbei und mitten ins Haus, als würde es ihr gehören.«
»Aber du hast ihr gesagt, was zu tun ist.«
»Gesagt habe ich ihr gar nichts. Sie hat mich einem Verhör unterzogen, das Francis Walsingham alle Ehre gemacht hätte. Sie hat mich direkt gefragt, ob ihr Blut dich retten könnte. Hätte ich da etwa lügen sollen?«
»Klar!«
Um ihn herum drehte sich alles, aber seine Fingernägel bohrten sich Halt suchend in den Schreibtisch.
»Tom, ich habe ihre nette und freundliche Art missbraucht, ihre Gutmütigkeit ausgenutzt.«
»Hast du nicht.« Er wehrte Christophers Einwände mit einem Kopfschütteln und einem Wink mit der Hand ab. »Hör zu! Sie hat dich wild entschlossen aus der Brandzone gerettet, hat dich vor dem Tageslicht geschützt und dir Nahrung zukommen lassen. Dann hat sie dich auf deine Bitte hin hierhergebracht. Und, du kannst mir glauben, sie hat mir wirklich alles erzählt, auch die Geschichte mit den Hühnerlebern. Eine Frau der Tat, Respekt.«
»Wir haben uns im Lauf der Nachtwache unterhalten, und da bin ich draufgekommen, dass ich mich in ihr getäuscht habe. Sie hatte nicht die geringste Absicht, sich an dich heranzuschmeißen. Sie wollte dich retten, nicht mehr und nicht weniger. Nachdem sie dich schon bis hierher gebracht hatte, hatte sie sich auch das Recht verdient, zu bleiben. Sie wollte den Grund für deine Schwäche wissen, und ob es noch irgendetwas gäbe, das dich retten könnte. Da habe ich es ihr halt gesagt. Anfangs graute ihr davor, aber sie hat sich dennoch dazu entschlossen, und zwar freiwillig. Du hast recht, sie ist ehrlich und meint es gut, und, ich glaube, sie liebt dich.«
»Genau das habe ich befürchtet. Ich habe an ihr gesaugt, wir sind ein Paar.«
»Du hast einmal gesaugt und vor einiger Zeit ein Schlückchen probiert. Deshalb ist man nicht auf ewige Zeiten verbandelt.«
»Nein? Bei den Unmengen, die ich zu mir genommen habe, stehe ich ewig in ihrer Schuld. Überhaupt, was ist, wenn es zu viel war? Sie ist schwer verletzt, hat eine Riesenwunde an ihrer Brust.« Er schaute Tom kritisch an. »Versuch bloß nicht, mir weiszumachen, sie hätte dieses Skalpell in ihrer Handtasche mitgebracht.«
»Sie hat es von mir bekommen. Notfalls hätte sie sich auch selbst gebissen. So weit war sie schon. Ich habe ihr das Unvermeidliche damit nur leichter gemacht. Kit. Du warst am Erlöschen, und sie hat sich angeboten, dich zu retten.« Seine Stimme wurde sanfter. »Einmal habt ihr beide, du und Justin, mich vom Tod ins Leben zurückgeholt. Ich habe mich lediglich revanchiert.«
»Auf Dixies Kosten!«
Tom sah zur Decke hinauf. »Gut möglich, dass der Preis in ihren Augen nicht zu hoch war. Aber jetzt ist es schon passiert. Stellt sich nur die Frage, wozu das alles gut war, wenn du dich nicht schonst. Du musst nun deinen Teil dazu beitragen, dass sie sich nicht umsonst geopfert hat.«
»Sie ist verletzt und geschwächt. Soll das der Dank für alles sein, dass ich mich schone? Der Schnitt muss genäht werden. Nur wo? Ein Krankenhaus kommt nicht in Frage. Stell dir mal das Krankenblatt vor! Verletzungsursache: Rettung eines sterbenden Vampirs. Sie würde in der Psychiatrie landen.«
»Justin wird die Wunde nähen und sie mit Blut versorgen.« Er grinste, als Christopher einen Satz auf ihn zu machte. »Versteh mich nicht falsch. Er wird Blutbeutel verwenden.« Tom fasste ihn an der Schulter. »Leg dich jetzt hin, Kit. Es wird bald dämmern, und ich bezweifle, ob du einen weiteren Sonnenaufgang überleben würdest. Wenn Dixie aufwacht, will ich ihr sagen können, dass du sicher ruhst, nicht, dass du, trotz ihrer ganzen Anstrengungen, zu einem Häuflein Asche verkohlt bist. Grausige Vorstellung, sie würde dann ihren Zorn auf mich abladen!«
»Der letzte Mann, von dem sie sich auf den Schlips getreten fühlte, bekam einen Wirthaustisch vor den Bug geknallt und einen Teller mit kochend heißem Curry auf sein bestes Stück.« Die Geschichte hatte ihn schon beim ersten Hören amüsiert und bis jetzt nichts von ihrem Reiz verloren.
Tom stand auf. »Wenn du schon wieder lachen kannst, bist du über den Berg. Geh jetzt schlafen. Ich bleibe auf, bis Dixie sich meldet. Kann ich noch was für dich tun?«
Christopher hielt sich an der Tischplatte fest. Nicht einmal als Sterblicher hatte er sich so schwach gefühlt. »Sorg dafür, dass sich Justin um sie kümmert.«
* * *
Dixie öffnete die Augen, als sie die Hand auf ihrer Schulter fühlte. Sie setzte sich halb auf, und zog dann die Decke hoch. Sie erkannte den Raum, aber nicht den Mann, der vor ihr auf der Bettkante saß. Wo war Christopher?
»Haben Sie keine Angst. Es ist alles gut.« Das klang zwar beruhigend, aber so leicht war sie nicht zu überzeugen. Sie sah sich um, schätzte die Entfernung zwischen Tür und Bett und fragte sich, ob Tom irgendwo in Reichweite war, um ihr notfalls zu helfen. »Vielleicht sollte ich mich vorstellen. Ich bin Arzt, Justin Corvus. Unser gemeinsamer Freund, Kit Marlowe, wollte, dass ich mich um Sie kümmere. So viel ich weiß, sind Sie verletzt.«
Das war nicht zu verleugnen. Ihre Brust pochte und pulsierte wie ein Kopf bei schwerstem Kater. Aber … »Tatsächlich? Ich hatte eher den Eindruck, er hätte wenig Vertrauen zu Ärzten.«
Der Mann nickte und runzelte dabei leicht die Augenwinkel. »Als Wiedergänger geht Kit sterblichen Ärzten aus dem Weg, wie wir alle.« Er hielt inne. »Er hat mich gerufen, weil ich derselben Kolonie angehöre. Ihre Verletzung kann man sonst niemandem erklären.«
Damit hatte er recht! Mit dieser Art Verletzung konnte sie schwerlich in einer Notaufnahme aufkreuzen. »Mir ist die Hand beim Zwiebelschneiden ausgerutscht« oder »Ich bin im Reißverschluss meines Parkas hängen geblieben« klang ebenso abwegig wie die Wahrheit. »Sie sind wirklich Arzt?«
Er legte den Kopf zur Seite. »Ja, Madam, schon seit es mich auf diese Insel verschlagen hat.«
»Und das war wann?«
Er verzog amüsiert den Mund. »Ich kam im Jahr 136 als Wundarzt zur Legio Nona Hispana und bin geblieben.« Ihr wäre beinahe das Kinn heruntergefallen, und sein Lächeln und die Hand auf ihrer Schulter waren zweifellos dazu gedacht, sie wieder zu beruhigen.
»Nur keine Angst. Ich habe einiges dazugelernt seit damals. Sie können mir vertrauen«, sagte er. »Am offenen Herzen würde ich zwar nicht operieren, aber auf Schnittwunden verstehe ich mich bestens. Die gehörten von Anfang an zu meinem Handwerk.«
Ihm vertrauen? Zum Teufel, warum nicht. Wenige Minuten später saß sie auf einem Berg von Kissen, während Justin Corvus sich Chirurgenhandschuhe überstreifte und Werkzeuge bereitlegte, die schon sehr nach einundzwanzigstem Jahrhundert aussahen.
»Sie sind noch immer in Sorge wegen Kit«, sagte er, als er ihren Blutdruck und den Puls maß.
»Ja, doch.« Sie schaute nach oben in die dunklen Augen. »Letzte Nacht habe ich schon gedacht, ich würde ihn verlieren.«
»Tom ging es nicht anders. Wir sind Ihnen großen Dank schuldig. Kaum ein Sterblicher ist so mutig wie Sie.«
»Na ja, mutig? Ich hatte einfach schreckliche Angst um ihn.«
»Genau das, finde ich, versteht man unter Mut – trotz aller Angst sein Ding zu machen.« Dann zog er ihr sanft die Bettdecke weg, die sie noch immer umklammert hielt, und besah sich die Wunde.
»Der Schnitt geht tief, aber wir kriegen das hin.« Sie zuckte, als er die Wunde mit einer kalten Lösung abtupfte.
»Der Kratzer oben verheilt von alleine, aber das andere muss ich nähen.« Sie spürte den Einstich und die sich verbreitende Taubheit.
»Warum habe ich nicht stärker nachgeblutet?« Angesichts der breiten, klaffenden Wunde war das wirklich nicht verständlich.
»Wir heilen die Stelle, an der wir saugen«, antwortete er, »so wie unsere eigenen Verletzungen auch sehr schnell heilen. Kits Narbe von dem Messerstich ist schon jetzt fast nicht mehr sichtbar, aber wir können keine Verletzungen heilen, die uns als Sterbliche zugefügt wurden. Das ist auch der Grund, warum Toms Hände oder Kits Auge so aussehen. Ich habe Kit vom Tod zurückgeholt, aber sein Sehvermögen wiederherzustellen, war eine andere Sache. Kit hat Tom zum Vampir gemacht, konnte aber die Verstümmelung durch die Folter nicht wiedergutmachen.«
»Sie haben Christoper zum Vampir gemacht?« Er nähte jetzt; sie sah die Handbewegungen und spürte das Ziehen, aber diese Unterhaltung hätte sie auch von einer Beinamputation abgelenkt.
»Mir ist der Ausdruck Wiedergänger lieber. Der Begriff ›Vampir‹ ist durch Hollywood und die Unterhaltungsliteratur auf den Hund gekommen.«
Sie zuckte, als er an einer empfindlichen Stelle besonders kräftig anzog. »Lassen Sie mich eines klarstellen. Kit, Christopher, ist der Christopher Marlowe, der in einer Schänke in Deptford umkam.«
Sie ging von einem bejahenden Nicken aus, umhauen würde es sie nicht. Trotzdem hätte sie gerne eine Bestätigung für etwas, das sie ohnehin schon wusste.
»Sie stehen noch immer unter Schock, und wahrscheinlich gehen Ihnen hundert Fragen im Kopf herum. Ich trage gerne meinen Teil zu ihrer Aufklärung bei, wo es möglich ist, will aber nichts über Kit oder Tom sagen. Deren Vorgeschichte geht mich nichts an. Was aber mich betrifft oder unsere Art im Allgemeinen …« Die Wunde war genäht, und er verpflasterte sie mit einem dicken Stück Verbandmull. »Nach ein paar Wochen können die Fäden raus, das war’s dann, und auch die Narbe ist nach einem Jährchen oder so verschwunden.«
»Ich melde mich also einfach in der nächstbesten Landarztpraxis und sage: ›Ein siebzehnhundert Jahre alter Arzt hat mich genäht, ziehen Sie bitte die Fäden.‹«
Er kicherte. »Sie haben recht, das geht nicht. Da gäbe es kein passendes Formular für den Nationalen Gesundheitsdienst. Nun will ich sehen, wo ich etwas Blut für Sie auftreiben kann.«
Dixie zog sie ihr T-Shirt über, als er draußen war, und fragte sich, wo er wohl Blut »auftreiben« würde. Na ja, er würde es wissen. Immerhin war das sein täglich Brot. Sie verzog das Gesicht bei dem Gedanken. Wenige Minuten später kam Justin mit zwei Beuteln Blut zurück. »Hat Tom Blutvorräte im Haus?«
»Natürlich.« Justin grinste. »Haben Sie etwa keinen Notvorrat an Lebensmitteln?«
Während sie diese Bemerkung verdaute, befestigte Justin den Beutel am Kopfende des Messingbetts und fummelte am Ventilrädchen des Infusionsschlauchs herum. »Noch mehr Fragen?«
»Ja, jede Menge. Das Thema Spiegel zum Beispiel. Hollywood hat recht, was das fehlende Spiegelbild betrifft.« Sie erinnerte sich daran, dass Christopher nicht in ihrem Dielenspiegel zu sehen war.
»Zum Teil. Wir besitzen zwar kein Spiegelbild, aber wenn wir lange genug hineinschauen, sehen wir unser ganzes Leben darin.« Er lächelte und legte den Kopf zur Seite. »Stellen Sie sich mal vor, wie Sie sich fühlen würden, wenn Sie jedes Mal mit sämtlichen Fehlern konfrontiert würden, sobald Sie in einen Spiegel schauen. Dazu kommt die Dauer unserer Existenz. Aus dem Grund vermeiden wir diese Erfahrung lieber.«
Dafür hatte sie vollstes Verständnis. An die Jahre mit ihrem Exverlobten wollte sie schließlich auch nicht andauernd erinnert werden. »Das versteh ich, aber die Sache mit den Tages- und Nachtzeiten kapier ich nicht. Ich habe Christopher bei vollem Tageslicht draußen gesehen, aber Tom hat gesagt, dass das Sonnenlicht ihn beinahe umgebracht hätte. Was gilt nun?«
Er ersetzte den leeren Beutel durch einen neuen. »Das kann man so und so sehen. Wir können zwar ausgehen untertags, aber direkte Sonneneinstrahlung kann uns schwächen. Nur wenn wir regelmäßig saugen, haben wir eigentlich keine Probleme.« Er hielt kurz inne, um das Ventil neu zu positionieren und den zweiten Beutel Blut ins Laufen zu bringen. »Tatsächlich ist der Hollywoodmythos über das ach so fatale Tageslicht sogar ein Vorteil für uns. Fast jeder glaubt daran, auch viele unserer Feinde. Bram Stoker wusste besser Bescheid, jedenfalls was das betrifft. Aber dieser ganze Hokuspokus über Kruzifixe, Kirchen und geweihte Hostien – der blanke Unsinn!«
»Aber warum hat die Morgensonne Christopher verbrannt? Und er hat tatsächlich gebrannt. Der Geruch war mehr als eindeutig.«
»Er war nackt, ohne jede schützende Kleidung. Und sie kannten seine verwundbarste Phase. Es war der Tag seiner Wiederkunft, an dem er aus größter Todesnähe zurückkehrt. Er wiederholt sich jedes Jahr.«
»Wäre es da nicht sinnvoll gewesen, sich für ein paar Tage in Sicherheit zu bringen?«
»Durchaus.«
Er sagte nichts weiter, brauchte er auch gar nicht. »Er ist meinetwegen zurückgekommen.«
»Genau. Weil er es so wollte. Kit ist ein Sturkopf. Mir ist dieser Zug schon vor ein paar hundert Jahren aufgefallen.«
»Das ändert nichts an der Tatsache, dass er beinahe umgekommen wäre, nur weil er mich sehen wollte.«
»Und dass er überlebt hat, weil Sie in der Nähe waren und den Mut hatten, aller Ungewissheit zum Trotz einzugreifen.« Er nahm den Beutel ab. »Das Leben nimmt seinen Lauf, und irgendwann erwischt es uns alle, auch uns Wiedergänger und Vampire. Kit war einfach noch nicht dran.«
»Sie hören sich schon an wie Granny. Die hat auch immer geglaubt, dass alles kommt, wie es kommen muss, und dass am Ende alles gut wird.«
»Und hatte sie nicht recht gehabt? Sie haben das Haus geerbt, völlig unerwartet, sind dann völlig überraschend hier aufgetaucht, und sie haben Kit die heiß ersehnten Bücher überlassen, wovon wir nicht einmal zu träumen gewagt hätten.«
»Warum sind sie denn so wichtig?«
»Altes Geheimwissen, dass wir lieber nicht in den Händen unserer Feinde sehen würden.«
Er unterbrach, um die Nadel aus ihrem Arm zu ziehen, platzierte einen Mulltupfer auf dem Tröpfchen Blut in ihrer Armbeuge und verband ihren Ellenbogen.
»Fertig«, sagte er mit zufriedenem Lächeln. »Sie brauchen jetzt Ruhe. Ich schlage vor, Sie schlafen ein Stündchen und geben Tom damit gleichzeitig die Gelegenheit, sich auf einen sterblichen Gast vorzubereiten.«
Sie meinte, so ganz allein, verletzt und in einem unheimlichen Haus voller Vampire könnte sie niemals schlafen. Aber sie hatte sich getäuscht.
Sie erwachte im Licht der späten Nachmittagssonne; neben sich, auf einem Tablett, fand sie eine Thermosflasche, der Boden war mit Einkaufstüten übersät. An der Thermosflasche lehnte eine Briefkarte.
»Liebe Dixie«, stand da zu lesen, »sei bitte mein Gast, solange Kit sich ausruht. Hier ist Kaffee, und Kit meinte, du könntest saubere Sachen gebrauchen. Am Ende des Gangs findest du ein Badezimmer. Fühl dich wie zu Hause und ruf, wenn du etwas brauchst. Ich bin unten in meinem Arbeitszimmer. Wenn du fertig bist, führ ich dich zum Essen aus. Tom Kyd.«
Sie nahm eine schnelle Dusche. Die Kleider passten recht gut, nur dass sie niemals Designer-Jeans oder eine Seidenbluse für sich gekauft hätte. Sie rubbelte sich das Haar trocken und ging dann gleich nach unten zu den Vampiren.
Die gebogene Treppe hatte sie letzte Nacht gar nicht wahrgenommen. Sie wäre breit genug für einen Lieferwagen gewesen. Und die Eingangsdiele mit dem großzügigen Marmorfußboden und den antiken Seitentischchen war auch nicht gerade klein. Was für ein Haus.
Sie fand Tom in seinem Arbeitszimmer, den Blick auf den Monitor seines Computers gerichtet; Justin saß in einem Ohrensessel und sah in den Garten hinaus, in dem ihr Auto noch immer geparkt stand.
Beide standen sofort auf, als sie zur Tür hereinkam. »Wie geht’s?«, fragte Tom.
»Noch ein bisschen schwummerig im Kopf, aber abgesehen davon …«
Er nickte, in seinen Augen ein vage angedeutetes Lächeln. »Das waren anstrengende Stunden – für uns beide. Dazu kommt, dass ich es nicht gewöhnt bin, einer Sterblichen zu Dank verpflichtet zu sein. Irritierend.«
»Du bist irritiert? Was soll dann ich sagen? Ich habe das Gefühl, in einem Zwischenbereich gelandet zu sein. Für dich sind doch Normalsterbliche nichts Neues.«
Das Lächeln griff auf seinen Mund über. »Dixie, die Tatsache, dass wir uns hier unterhalten, beweist, dass du keine normale Normalsterbliche bist.«
Sie durchquerte den Raum und setzte sich; dann wurde ihr klar dass sie mutterseelenallein war, mit zwei Blutsaugern zwischen ihr und der Tür, und kein einziges lebendiges Wesen wusste, wo sie sich aufhielt.
Ihr Herz klopfte so laut, dass sie Justins ruhige Stimme beinahe überhört hätte. »Du kannst ganz beruhigt sein. Hier wird dir nichts passieren. Tom ist dir, bei allem Misstrauen, ebenso sehr zu Dank verpflichtet wie ich.«
»Kannst du etwa Gedanken lesen?« Ihr wurde noch mulmiger zumute.
»Gedanken nicht, aber dein Gesicht«, sagte Tom. »Man braucht nur genau hinzusehen.«
»Nun, bis jetzt war ich immer ganz gut darin, auch in schwierigen Situationen das Gesicht nicht zu verlieren. Irgendwie muss ich aus dem Takt geraten sein.«
»Nein, du bist lediglich dabei, dich mit einer erweiterten Realitätssicht anzufreunden.«
»Die Realität, die mir im Moment am nächsten steht, ist Hunger.«
»Hab ich mir schon gedacht. Ist ja auch kein Wunder bei dem Schock und dem Blutverlust. Wir begleiten dich auf ein Steak um die Ecke.«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Alles bloß nicht das. Ich bin Vegetarierin.«
Die merkwürdige Tatsache, dass zwei Vampire eine Vegetarierin zu einem späten Lunch ausführten, blieb unerwähnt. Sie steuerten einen eleganten, sehr teuren Coffee-Shop ganz in der Nähe von Toms Haus an, wo sie sich eine Flasche Rotwein teilten, während Dixie ein Pilzomelett, einen großen Salat sowie Käse und Brot verzehrte.
»Erzähl mir doch bitte so viel wie möglich darüber, wie du Kit gefunden hast«, sagte Justin, als er ihr Wein nachgoss.
Sie kam seiner Bitte nach. Dann fragte er nach dem ummauerten Garten, den sie ihm sofort in allen Einzelheiten beschrieb, inklusive der Steinphalli. Auch alle Details über Christophers Wunde wollte er wissen, die zu beschreiben sie aber keinerlei Mühe hatte; das Bild hatte sich tief in ihr Inneres eingebrannt. »Für mich ist es unvorstellbar, wie alles so schnell verheilen konnte, nachdem das Messer draußen war.«
»Ich würde alles geben, dieses Messer zu sehen«, murmelte Justin.
»Nichts leichter als das.« Sie öffnete ihre Handtasche, die sie zuvor noch aus dem Auto geholt hatte, wühlte in dem Chaos und zog das in einer Sandwichtüte verpackte Teil heraus. »Mehr ist davon nicht übrig. Christopher hat bei dem Versuch, es herauszuziehen, den Griff abgebrochen.«
»Und wie hast du es rausgekriegt?«, fragte Tom, als er es an Justin weiterreichte.
»Eine Zangengeburt.«
Justin hielt die dunkle Klinge zwischen zwei Fingern. »Wie vermutet, ein Druidenmesser. Seit wann sie das wohl besaßen.«
»Wen meinst du denn mit ›sie‹?«, fragte Dixie, bekam aber keine Antwort. »Was ist ein Druidenmesser?«, versuchte sie es abermals.
»Die Originale wurden von den Druiden für Opferzwecke hergestellt, und um die heilige Mistel zu schneiden. Später hat man sie nach dem althergebrachten Verfahren kopiert; diese Dinger verfügen über dieselben Kräfte.« Justin legte es zwischen ihnen auf den Tisch. »Ich glaube, das ist ein Original.«
»Ein Druidenmesser?« Was wusste sie von Druiden? Nicht viel.
Er nickte. »Damit wurde so manches Opfer hingemetzelt, keine Frage, aber zumindest einmal hat seine magische Kraft versagt.« Er steckte es zurück in die Tüte. »Ich werde mich darum kümmern, dass es kein weiteres Opfer mehr finden wird, das verspreche ich euch.«
»Dixie«, sagte Tom, »ich muss mich entschuldigen bei dir wegen des miesen Empfangs gestern Abend. Du hast meinem ältesten Freund das Leben gerettet. Dafür danke ich dir.«
»Er ist auch mein Freund«, erwiderte sie, »auch wenn du mir an Jahren manches voraushast.«
»Ungefähr vierhundert, plus minus ein paar zerquetschte.«
»Genau, das wollte ich dich sowieso schon fragen.« Sie zögerte, fragte sich, ob es bei Vampiren in der Hinsicht eine Art Etikette gäbe. »Du bist Tom, um genau zu sein Thomas Kyd, ein Zeitgenosse von Christopher, stimmt’s?«
»Stimmt genau. Kit verstarb fünfzehn Monate vor mir. Unser beider Tod wurde immer wieder in Zusammenhang gebracht – beide Opfer der Politik des Hauses Tudor –, aber wir waren Freunde, wohnten sogar zusammen, und er hat mich verwandelt. Seitdem sind wir Freunde geblieben.«
Sie wandte sich an Justin. »Und du hast Christopher zum Vampir gemacht?«
»Ich habe ihn nach seiner Ermordung verwandelt, so wie Kit Tom nach seinem Tod verwandelt hat.«
»Und wie bist du zum Vampir geworden?«
»Eine Druidenpriesterin hat mich verwandelt, nachdem mir von einer Brigantine aus ein Pfeil in die Kehle geschossen wurde. Heutzutage hätte man eine derartige Verletzung schnell im Griff, aber damals schwamm ich in meinem eigenen Blut, und Gwyltha hat mich gefunden. Bis dahin hatte sie noch nie einen Römer verwandelt.« Er hielt inne, und vor seinem geistigen Auge zogen die Jahrhunderte vorbei. »Ich war jahrelang der einzige nicht druidische Wiedergänger.«
»Es ging also mit den Druiden los?« Das stimmte nicht mit dem überein, was sie aus Romanen kannte.
Er schüttelte den Kopf. »Es gibt noch weitaus ältere Kolonien als die der Druiden. Manche gehen bis auf das alte Babylon zurück.« Und sie hatte immer geglaubt, in Transsylvanien hätte alles angefangen.
Sie warf einen Blick auf die anderen Gäste im Coffee-Shop; in einer Ecke lehnte eng aneinandergeschmiegt ein Pärchen, am Nachbartisch tagte ein Damenkränzchen und etwas weiter weg konspirierten drei Männer im Nadelstreifenanzug. Dixie hätte Haus und Haus darauf verwettet, dass sie alle auf der Stelle tot umgefallen wären, hätten sie auch nur ein Wort von der Unterhaltung an ihrem Tisch mitbekommen.
Die Sonne ging gerade unter. Sie schauten hinaus in die sommerliche Abenddämmerung, die sich noch lange hinziehen würde. Sie hatten den ganzen Nachmittag hier verbracht.
»Kit wird schon auf uns warten«, sagte Tom.
Dixie ballte die Fäuste. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihn zu sehen, und doch wurde ihr schon bei dem Gedanken daran angst und bange.
Bis vor kurzem sah sie lediglich einen attraktiven und ziemlich faszinierenden Burschen in ihm. Und nun? Bald würde sie es wissen. Die fünfzig Meter bis zu Toms Haustür mit den Lorbeerbäumen links und rechts zogen sich, als handelte es sich um ebenso viele Meilen.
»Dixie«, sagte Justin, der neben ihr herging, »nur wenige Sterbliche wissen, was du weißt.« Darauf war sie auch schon gekommen. »Und noch weniger haben etwas Vergleichbares wie du vollbracht. Im Lauf unserer langen Geschichte hatte nur eine Handvoll diesen Mut und dieses Vertrauen an den Tag gelegt. Innerhalb unserer Kolonie bist du sogar die Erste. Das bleibt unvergesslich.«
»Ich werd’s auch nicht über Nacht vergessen.« Warum so schnippisch? War es der Gedanke an das Wiedersehen mit Christopher? Seine Umarmung? Ihre Brüste kribbelten, nein, ihr ganzer Körper kribbelte. Weil er ihr nahe war. Und am Leben. Sie schüttelte den Kopf. Würde sie überhaupt die richtigen Worte finden?
»Sicher erwartet dich Kit schon.« Tom blieb auf der Treppe vor seiner Haustür stehen.
Justin stand neben ihm. »Geh schon rein.«
Sie drehte den auf Hochglanz polierten Messingknauf. Die schwere Tür öffnete sich lautlos, und sie betrat die großzügige Diele mit den Marmorfliesen und der breiten, gebogenen Treppe.
Er stand im Eingang rechts neben ihr.
»Christopher.« Sie schluckte, und ihr Herz schlug wie ein Tomtom unter den noch frischen Stichen.
Da stand er nun, ein Traum von Mann, nur eine Armlänge entfernt. Und er lächelte. »Hallo, Dixie«, sagte er. Sie wollte etwas sagen, darauf antworten, aber sie brachte kein Wort heraus, zitterte und sah verschämt weg.
»Du siehst …« Sie fand einfach nicht das passende Wort. »Die siehst viel besser aus als neulich, als ich dich in meinem Garten gefunden habe«, sagte sie und wäre am liebsten im Erdboden versunken, als er zusammenzuckte.
»Muss ein ziemlicher Schock gewesen sein für jemanden, der so gar keine Ahnung hatte.«
»War es auch. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren ziemlich happig für mich.«
»Tut mir leid, Dixie.« Es klang wie eine Entschuldigung für alles Ungemach zwischen den Geschlechtern seit Adams Vorhaltungen an Eva wegen des Apfels.
»Dass es dich gibt oder was Spezielles?«
»Dieser ganze verdammte Schlamassel.«
Seine Worte trafen sie wie ein Schlag, aber sie fing sich wieder und sah in das weiche, warme Gesicht neben sich. Im Lauf der letzten Tage hatte sie alle nur erdenklichen Veränderungen darin gesehen. Dachte sie jedenfalls. »Deine Ausdrucksweise lässt zu wünschen übrig.« Sicher, dieser Ton war mehr als gouvernantenhaft, aber er war immerhin der Verfasser eines Werks wie Dr. Faustus und könnte sich von daher etwas mehr Mühe geben als ein durchschnittlicher Teenager.
Aus einem weit geöffneten Auge traf sie ein reuevoller Blick. »Wie soll man es anders nennen?«
Dieses Mal traf es sie mitten ins Herz. »Verstehe.« Dabei verstand sie überhaupt nichts.
Christopher legte ihr eine Hand auf die Schulter. Ihr verwirrter Körper wusste nicht, ob er zurückweichen oder sich an ihn werfen sollte, also starrte sie ihn bloß an. Seine Haut, die jegliche Blässe verloren hatte, erstrahlte rosig in jugendlicher Frische. Sein schwarzes, am Hals offenes Leinenhemd gab den Blick auf ein paar vereinzelte Haare frei. An seinem Hals pulsierte eine Schlagader. Zwischen Ehrfurcht und Schrecken hin und her schwankend, erkannte sie, dass in seinen Venen ihr Blut floss.
»Dir wird langsam manches klar«, sagte er.
»Überhaupt nicht.«
Tatsache war, dass sie umso weniger verstand, je angestrengter sie nachdachte.
»Tut mir leid, Dixie«, sagte er abermals.
»Was denn?«
»Dass ich dich in diesen Schlamassel reingezogen habe und dass ich deine Freundlichkeit missbraucht und deinen guten Willen überbeansprucht habe. Dass ich dich hierhergezerrt habe, wo du doch gemütlich in Bringham vor dem Fernseher sitzen oder Guinness im Barley Mow trinken könntest.« Er unterbrach und fuhr sich mit den Fingern durch das dunkle Haar.
Dixie konnte nicht länger an sich halten. »Moment mal! Alles, was ich seit Montag für dich getan habe, hab ich aus freien Stücken getan. Alles war allein meine Entscheidung! Ich hätte dich schmoren lassen können. Hab ich nicht. Stattdessen hab ich dich vor der Sonne gerettet und ganz Leatherhead nach diesen widerlichen Hühnerlebern abgeklappert. Und ich habe dich freiwillig nach London kutschiert. Da spielst du dich auf wie der große Zampano?«
Er kniff die Lippen zusammen. Sein Auge verfinsterte sich. »Dixie, so wie du eine Not leidende Kreatur einfach retten musstest, hättest du ebenso gut auch nackt die High Street entlangschlendern können. Du hast damit gar nichts zu tun. Du bist hoffnungslos überfordert und obendrein von Sinnen.«
»Du natürlich nicht.«
»Ich habe das längere Gedächtnis und eine klarere Sicht der Dinge.«
»Ach ja? Woran kannst du dich denn erinnern? Du warst ziemlich weggetreten, als wir hier ankamen.«
»Daran erinnere ich mich gerade noch. Und du vergisst es am besten. Geh zurück nach Bringham und vergiss, dass du mich jemals gekannt hast.«
»Nichts leichter als das.« Ihr Körper wusste nicht, ob er schwitzen oder zittern sollte, also tat er beides.
»Dixie, so hör mir doch zu. Ich will dich nicht verletzen.«
»Dafür gelingt es dir aber verdammt gut.«
Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und streckte sie ihr dann entgegen, machte aber einen Rückzieher. »Ich verdanke dir meine Existenz. Du hast mir das Leben neu geschenkt. Trotzdem müssen wir vernünftig sein.«
»Ich habe die letzten Stunden damit zugebracht, meine Vorstellungen von Realität und Fantasie komplett umzukrempeln, und du sagst mir, ich soll vernünftig sein. Vielleicht kann ich das einfach nicht.«
»Dann will ich dir auf die Sprünge helfen.« Die geballten Fäuste brachten die Muskeln in seinen Unterarmen zur Geltung. Dazu legte er die Stirn in Falten, sodass die Augenbrauen beinahe zusammenstießen. »Es ist ganz einfach. Du bist sterblich, ein Mensch, ich dagegen bin ein Vampir. Zwischen uns kann und darf es nichts geben. Geh zurück nach Bringham und vergiss, dass du mich je gekannt hast. Lass Tom Kyd, Justin Corvus und Kit Marlowe wieder im Dunst der Geschichte verschwinden und leb dein Leben.«
»Na dann.« Seine Worte hallten ihr noch immer durch den Kopf, und ihr Herz raste.
Er atmete schwer, als hätte er in der letzten Viertelstunde den Mount Everest erklommen. »Dixie, versteh doch bitte. Man hat versucht, mich aus dem Weg zu räumen, und ohne dich wäre es ihnen auch gelungen. Dieser Zirkel besteht lediglich aus ein paar zweitrangigen Magiern, die im Dunklen herumtappen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie meine Macht erlangt hätten. Ich muss untertauchen – vielleicht für Jahre. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«
In ihrem Inneren tat sich ein kaltes, dunkles Loch auf. Gerade erst waren sie einander begegnet, und nun sollte sie ihn verlieren, noch ehe sie ihn richtig kennengelernt hatte.
Seine Arme schlossen sich um sie zusammen wie warme Stahlbänder. Sie rieb die Wange gegen das raue Leinen seines Hemds, während seine Hand ihr über den Kopf strich. »Ich würde mich ja anders verhalten, wenn es in meiner Macht stünde oder wenn ich sonst wüsste wie. Aber so gibt es keine andere Möglichkeit, Dixie, für uns beide.«
Das musste sie akzeptieren. In dem Gespräch mit Justin und Tom war ihr mehr als klargeworden, dass sie aus verschiedenen Welten stammten. Aber was half das? Ihren Schmerz konnte das nicht lindern. »Du wirst mir fehlen. Was soll ich nur ohne dich anfangen?«
Er küsste sie auf den Kopf. »Geh nach Hause in die USA zurück, lern dort einen lieben, treusorgenden Mann kennen und sei glücklich bis ans Ende deiner Tage.« Sie wollte ihm nicht sagen, dass sie es schon einmal auf diese Tour versucht hatte – und böse reingefallen war. Seine Arme umschlossen sie fester. »Wenn du jetzt losfährst, kommst du nicht allzu spät nach Hause.«
Er meinte es wirklich ernst, zumindest seinen Worten zufolge; seine Arme sprachen eine andere Sprache. Sie machte sich los und sah zu ihm auf. Sie wollte etwas sagen, aber die Worte blieben in ihrer Kehle stecken. Seinen Arm um ihre Schulter gelegt, führte sie Christopher durch die Diele ins Wohnzimmer bis zur Verandatür. »Niemand darf erfahren, was geschehen ist. Du musst schweigen wie ein Grab. Geh so schnell du kannst weg von Bringham. Und hüte dich vor Caughleigh. Dieser Mann bedeutet nichts als Ärger.«
War er etwa eifersüchtig? Nein. Wohl eher vernünftig. »Mach dir seinetwegen keine Gedanken. Ich werde den Teufel tun, mich noch einmal mit ihm zu verabreden. Sollte es einen weiteren Whist-Abend geben, werde ich Vernon bitten, mich zu begleiten.«
Er kicherte.
Sein Kichern war besonders sexy, und sie würde es nie wieder hören.
»Ich werde dich saumäßig vermissen.«
»Jetzt vergreifst du dich aber im Ton.«
»Anders kann ich es nicht sagen.« Er konnte sich glücklich schätzen, dass sie sich nicht an ihn klammerte und heulte.
»Für dich.« Sie sah nach unten. In seiner Hand lag ein Schmucketui.
»Nimm es, als Erinnerungsstück.« Sie klappte den samtenen Deckel auf. Ein ovaler, schwarzer Stein, in Silber gefasst, glänzte ihr aus der mit weißem Satin ausgekleideten Schachtel entgegen. »Ein Jettstein aus Whitby. Aus den tiefsten Tiefen der Erde.« Sie hörte ihn nur halb. »Schau.« Er nahm das Collier aus ihrer Hand und legte es ihr um den Hals. Die massive silberne Kette war länger als erwartet, und der Stein baumelte zwischen ihren Brüsten. »Denk an mich, wann immer du sie trägst.«
Etwas verkrampfte sich in ihrem Inneren. »Muss es wirklich sein, Christopher? Kannst du nicht hierbleiben, sodass ich dich ab und an besuchen kann?«
Sie wusste, dass er den Kopf schütteln würde. »Hier wirst du mich nicht finden. Wir haben keine andere Wahl, Liebes, und es ist besser, für uns beide.«
Seine Arme pressten sie fest gegen die starke Wand seiner Brust. Sie seufzte, als sein Mund den ihren berührte, und ihr Seufzen ging in ein entzücktes Stöhnen über, als sie seine warme Zunge spürte. Bei dem Gedanken, ihn zu verlieren, wäre ihr beinahe das Herz stehen geblieben.
Schließlich saß sie im Auto, und er hatte die Tür bereits zugemacht. Sie drehte den Zündschlüssel. Das schwarze Garagentor ging hoch, und sie steuerte auf die Straße hinaus. Als sie wegfuhr, hüllte sie ein kaltes Gefühl von Einsamkeit ein wie arktischer Nebel.